Sanktionen oder das Wesen des Hartz IV-Systems

Frank Gerfelder-Jung

Noch nie haben Jobcenter so viele Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger verhängt wie im Jahr 2011. Die Zahl ist nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit im letzten Jahr gegenüber 2010 um 10 Prozent auf rund 912.000 Fälle gestiegen. Die Hauptgründe waren Nichteinhalten von Terminen beim Amt sowie der Abbruch oder das Nichtantreten einer Arbeitsplatzmaßnahme.

Gleichzeitig wurde berichtet, dass die sogenannten Betrugsfälle zurückgegangen sind. Trotzdem bemühte neben der BILD-Zeitung ausgerechnet die Frankfurter Rundschau sofort das Klischee vom Sozialmissbrauch, indem sie die von Sanktionen Betroffenen zu Arbeitsunwilligen erklärte.

Differenzierter äußerte sich eine Sprecherin der Bundesagentur zu den Gründen für den Sanktionsrekord: "Je mehr offene Stellen es gibt, desto mehr Angebote können unsere Vermittler den Arbeitslosen machen und umso häufiger kommt es zu Verstößen." Ausgerechnet in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nimmt der Druck auf die Erwerbslosen zu. Nicht nur in der öffentlichen Meinung wird ihnen noch mehr als sonst die Verantwortung für den Hartz-IV-Bezug gegeben. Auch auf den Jobcentern bedeuten mehr offene Stellen, dass es für Hartz-IV-Empfänger immer schwerer wird, eine Stelle abzulehnen. Einen Job zu fast jeden Preis annehmen zu müssen, war aber genau die Intention der Agenda 2010.

Insofern zeigt das Sanktionshoch kein Versagen an, sondern das Funktionieren des Hartz-IV-Systems. Zudem werden die Jobcenter immer professioneller beim Verstopfen der letzten Schlupflöcher, mit denen manche Erwerbslose in den letzten Jahren noch ein Stück weit selbst entschieden, welchen Job sie zu welchem Preis und zu welchen Bedingungen annehmen wollten.

Ein Moratorium, also ein einstweiliges Aussetzen von Sanktionen wird mittlerweile von Gewerkschaftern, Wissenschaftlern und Politikern unterstützt. Aber es wird nicht umgesetzt. Denn damit würde der Kern der Hartz-IV-Reformen, Lohnarbeit zu fast jedem Preis annehmen zu müssen, entfallen.

Mit der zunehmenden Sanktionierung von Hartz-IV-Empfängern wuchert gleichzeitig der Niedriglohnsektor, der sich wiederum auf die Löhne insgesamt auswirkt. Mit wachsender Furcht vor dem Fallen ins Hartz-IV-Regime sind eben viele Beschäftigte zu Lohnverzicht und Mehrarbeit bereit. Aber dieser Effekt war von den Verantwortlichen der Hartz-IV-Gesetze beabsichtigt.

Arbeitsarmut und hohe Armutsquote dank Hartz IV

2009 waren laut EU-Statistikbehörde Eurostat in Deutschland 7,1 Prozent der Erwerbstätigen von Arbeitsarmut betroffen. Das heißt, ihnen standen weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens zur Verfügung. In Deutschland liegt diese Schwelle für einen Alleinstehenden bei 940 Euro im Monat. Im Vergleich zu 2004 - dem Beginn der Hartz-Reformen - ist der Anteil der "Working Poor" um 2,2 Prozentpunkte gestiegen. Die Arbeitsarmut in Deutschland stieg stärker als in allen anderen EU-Staaten. Im EU-Durchschnitt wuchs die Armutsquote unter Erwerbstätigen nach Eurostat nur um 0,2 Prozentpunkte. Nun liegt Deutschland mittlerweile bei der Arbeitsarmut im europäischen Mittelfeld.

Noch weitaus drastischer stieg seit 2004 die Armutsquote unter Erwerbslosen um 29 Prozentpunkte. Das war fast sechsmal so viel wie im EU-Mittel. 2009 hatten 70 Prozent der Erwerbslosen in Deutschland nur ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze - 2 Prozentpunkte mehr als im Durchschnitt der 27 EU-Staaten.

Parallel zur Ausbreitung der Arbeitsarmut in Deutschland nahm auch die atypische Beschäftigung stark zu. Verschiedene Studien zeigen, dass befristete Jobs, Leiharbeit, Teilzeitstellen und Minijobs im Durchschnitt deutlich schlechter bezahlt werden als so genannte Normalarbeitsverhältnisse. Auch die Zahl der Soloselbständigen nahm zu, also von Freiberuflern ohne eigene Angestellte, die ebenfalls häufig schlecht verdienen.

Die hohe Armutsquote unter deutschen Erwerbslosen beruht auf mehreren Faktoren. Einerseits spiegelt sie teilweise die Erholung am Arbeitsmarkt wider: Da vor allem Menschen wieder einen Job fanden, die noch nicht so lange arbeitslos waren, stieg der Anteil der Langzeiterwerbslosen. Die sind jedoch seit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe im Zuge der Hartz-Reformen in Deutschland faktisch nicht gegen Armut abgesichert. Nach einem Jahr - einer im Vergleich zu etlichen europäischen Nachbarländern relativ kurzen Frist - erhalten Erwerbslose kein einkommensabhängiges Arbeitslosengeld I (ALG I) mehr, sondern nur noch das niedrigere ALG II (Hartz IV) als Grundsicherung. Und das reicht nicht mehr, um das Haushaltseinkommen über der Armutsgrenze zu halten.

Wer bereits in Beschäftigung arm ist, wird es als Erwerbsloser erst recht sein. Sei es, weil das Einkommen so niedrig ist, dass schon das ALG I unter der Hartz-IV-Grenze liegt. Oder weil ein prekär Beschäftigter mit unterbrochenem Erwerbsverlauf nicht lange genug am Stück beschäftigt war, um überhaupt einen Anspruch auf die Versicherungsleistung zu haben.

Auf unserer Website können Sie die Antworten des Magistrats auf unsere Anfragen zu Hartz-IV-Sanktionen in Darmstadt nachlesen.