Schepp ist nicht nur die Schachtel

Uli Franke

Über die schiefen Winkel des neuen Darmstädter Prestigeobjekts wird viel diskutiert und zwar keinesfalls nur kritisch.
Die Architektur der "Schachtel" für sich spricht ja durchaus viele Darmstädterinnen und Darmstädter an. Auf der Straße oder am Kneipentisch fragt man sich allerdings, ob das "Gesamtkunstwerk" östlich des Schlosses wirklich so funktionieren wird wie die Planer und Erbauer glauben. Denn können die Neubauten wirklich dazu beitragen, "die Trennung zur City aufzuheben", wie TU-Kanzler Seidler hofft? Oder wird das düstere Kongresszentrum in Tateinheit mit dem Kongresshotel, das ja genausowenig öffentlicher Raum ist, diese Trennung sogar noch zementieren? Was nützt die Plexiglasbrücke, wenn sie vor dem entscheidenden Hindernis zwischen Innenstadt und Martinsviertel endet? Und: Wie ändert sich die Campus-Atmosphäre, wenn das zentrale Hörsaalgebäude der TU Stadtmitte zwischen Tagungsort und Hotel für (Wissenschafts-)Manager eingezwängt wird? Solche Fragen werden Darmstadt sicher noch lange bewegen. Doch als größeres Problem für das öffentliche Leben könnte sich die Schräglage hinter der Fassade herausstellen.
"Mittelfristig verschwinden Kongresszentren aufgrund des verschärften Wettbewerbs vom Markt", war der Stadt in einem selbst beauftragten Gutachten prophezeit worden. Für Sääle mit der geplanten Kapazität von 1.600 Personen könne "keine Nachfrage" festgestellt werden. Beratungsresistent und aufs Prestige versessen drückte OB Benz sein Projekt durch und fast alle klatschten Beifall. Nun zeigt sich die Kalkulation schon vor der Eröffnung als purer Zweckoptimismus und macht dem Namensgeber des Kongresszentrums alle Ehre: Das chemische Element Darmstadtium hat nämlich eine Halbwertszeit von gerade einmal 180 Mikrosekunden. Das Cybernarium bleibt eine Luftnummer und wird, wenn überhaupt, auf einem Drittel der geplanten Fläche mit reduziertem Mietpreis nur wenig zur Finanzierung beitragen können.
Auch die großen Kongresse sind offenbar noch nicht in Sicht, denn die Programminformation auf der Website kündigt außer zwei Messen nur zahlreiche Kulturveranstaltungen an. Nichts gegen Ballett, Musicals und Comedy - aber das Profil der Stadt sollte doch mit einem Kongress- und sogar Wissenschaftszentrum gestärkt werden und nicht mit einem Tigerpalast oder einer zweiten Centralstation. Jedenfalls muss die Stadt im ersten Betriebsjahr 2008 allein die laufenden Kosten mit ca. 2,5 Millionen Euro subventionieren. Über die Rückzahlung der Baukosten von 77 Millionen Euro, die bei einem Abschreibungszeitraum von 30 Jahren und einem Kreditzins von 5% in der Größenordnung von 5 Millionen Euro jährlich liegen müsste, braucht unter diesen Umständen wohl gar nicht nachgedacht zu werden.
Und was wäre, wenn es doch gelingen sollte, regelmäßig große Kongresse einzuwerben? Es klingt fast wie eine Drohung, wenn der OB über einer möglichen Tagung des Bundesverbands mittelständischer Unternehmer mit 2000 Teilnehmern spekuliert, oder über die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft, die von der Stadt "geschluckt" werden müsse (DE, 27.06.07). Passt es eigentlich zum Darmstädter Lebensgefühl, wenn sich 1000 Geschäftsleute oder Wirtschaftsfunktionäre - wohlgemerkt: nicht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler - in die Kneipen und Restaurants der Innenstadt und des Martinsviertels ergießen? Sieht so das neue Image der "Wissenschaftsstadt" Darmstadt aus? Und erst jetzt wurde festgestellt, dass ein Leitsystem zum reibungslosen Abfluss des Kongress-Verkehrs fehlt. Also weitere Kosten, die sich nachträglich in den Haushalt schleichen. Und will man nicht am anderen Ende der Stadt durch die Nord-Ost-Umgehung für sehr viel Geld versuchen, den Verkehr aus der Innenstadt heraus zu halten? Die Bürgerinnen und Bürger haben außer Feinstaub und pulverisierten Steuergeldern wenig vom Kongresszentrum. Viele haben es geahnt: laut der diesjährigen Bürgerumfrage hielten zwei Drittel den Bau des Darmstadtiums und andere Prestige-Projekte für "eher unwichtig "oder "unwichtig". Sie setzen ihre Prioritäten auf die Bereitstellung von Kindergarten- und Hortplätzen und auf die Schulbausanierung (DE, 13.07.07). Und genau dort muss nun gespart werden: den Darmstädter Schulen wurden gerade 260.000 Euro gestrichen, und die Stadt will nicht einmal 24.000 Euro Lernmittelzuschuss für die 300 Erstklässler aus Hartz-IV-Familien gewähren. Was hier für die Bildung fehlt, könnte durch den Zuschuss an das Kongresszentrum fast zehnmal gedeckt werden. Auch im Kulturhaushalt muss die Stadt zehn Prozent einsparen. Die freie Kulturszene wird darunter am stärksten zu leiden haben.